Unlearning Producing – oder Filò

Chiara Marcassa und Tilman Aumüller für das Festivalteam

Der Begriff Filò stammt aus dem venezianischen Dialekt und wurde vermutlich vom Lateinischen Filatum abgeleitet, welches die Aktivität des Spinnens (z. B. der Rohwolle) bezeichnet. Filò war eine im ländlichen Norditalien verbreitete kulturelle und soziale Praktik. Im Winter trafen sich die Familienangehörigen, die Nachbarschaft und Freund*innen im Stall, um die kälteren und dunklen Abendstunden gemeinsam zu verbringen. In den kalten Jahreszeiten war es besonders günstig, die von den Körpern der Menschen und Stalltieren produzierte Wärme auszunutzen und somit Feuerholz zu sparen. Doch der Kern des Filò bildeten eher seine geselligen und kreativen Komponenten. Die Nächte waren gefüllt von gemeinschaftlich ausgeübten Aktivitäten: Werkzeuge für die Landwirtschaft wurden repariert, man bastelte Holzspielzeuge für die Kinder, es wurde die Wolle gesponnen, gestrickt, gestickt, gehäkelt, genäht. Gerüchte und Meinungen wurden in alle Richtungen getauscht. Sagen und Legenden, wahre und fiktive Geschichten wurden an die nächsten Generationen weitergegeben, die Anwesenden beteiligten sich am Üben folkloristischer Gesänge und Tänze. Gar berichten Quellen über professionelle Erzähler*innen, die, wie Magier*innen, von Stall zu Stall wanderten und ihren Geschichten im Tausch gegen eine kleine Spende verbreiteten. Und für die Jüngeren war Filò auch der Ort, an dem neue Freundschaften und Liebeleien entstanden…

Anthropologisch betrachtet, entstehen die Orte, an denen Kunst praktiziert wird, und die dabei zugeschriebenen Rollen und Graden der Beteiligung im Einklang mit der Setzung einer bestimmten, gesellschaftlichen Anordnung. Kunst, Handwerk und populäre Kultur waren im Filò engmaschig ineinan- der verwoben, im Kontext einer ländlich geprägten Gesellschaft, die sich nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und der anschließenden, raschen Industrialisierung auflöste.

Die Vorstellung, eine Art Filò mitten in unserer Gesellschaft, in unseren Großstädten wiederherzustellen bzw. hinein zu implantieren wirkt nicht nur illusorisch, sondern auch gewissermaßen widersinnig, denn Strukturen, Institutionen, Orte, und Zeitlichkeiten, die unsere Arbeit, auch die künstlerische, ausmachen, ja die gesellschaftliche Ordnung, sind nicht mit dieser anderen Realität vereinbar. Will man das pessimistisch ausdrücken, kann man mit Alaida Azuley sagen, dass die Kunst, wie wir sie kennen, zumeist eine Bewegung ist, die etwas aus einem lebendigen Zusammenhang reißt, in welchem Objekte und Leute in der Praxis verbunden sind. Das, was aus dem Zusammenhang ausge- rissen wird, wird danach für Andere ausgestellt. Kunst ist somit eine Technik, die enteignet und trennt, weil sie die lebendigen Gewebe zerstört, in welchen Menschen und Praktiken ineinander verwoben sind.

Als IMPLANTIEREN 2022/23 konzipiert wurde, erlebten wir Künstler*innen eine besondere Aufhebung normaler Arbeits- abläufe im Krisenzustand der COVID-Pandemie. Es war unmöglich, das zu tun, was wir gewohnt sind, nämlich auf Premieren hin zu arbeiten, oder bestehende Karrieren zu verfolgen. In dieser Zwangspause wurde etwas sichtbar, dem meist wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, nämlich dieses komplexe Gewebe von lebendigen Beziehungen, von dem wir alle abhängig sind, und um das man sich kümmern muss, damit es nicht zerbricht.

Diese Tätigkeit des Kümmerns ist schwer zu fassen, weil sie nichts zu produzieren scheint. Im Gegenteil. In einem seltsamen Antiproduktionsparadox scheint mehr Raum dafür da zu sein, dieses Gewebe wachsen zu lassen, wenn nichts produziert wird, wenn man nichts macht. Diese Art von Tätigkeit ist nämlich gar nicht darauf ausgerichtet, etwas Neues zu produzieren. Sie ist, wie Jaon Tronto schreibt, auf Kontinuität ausgerichtet; darauf, etwas fortzusetzen, oder zu pflegen, oder unsere Welt, die heute immer kaputter erscheint, zu reparieren, sodass wir, „so gut wie möglich in ihr leben können.“

Aber wie können wir dem Kümmern Raum geben? Können wir, wie im Filò, durch das gemeinsame künstlerische Arbeiten, Beziehungen spinnen? Was würden wir eigentlich machen, wenn wir nicht gezwungen wären, konstant etwas Neues zu produzieren und neue Arbeiten zu inszenieren, oder immer neue Produktionen zu besuchen? Was würde uns als eigentlich wichtig, was als erfüllend erscheinen? Was würden wir gerne mit anderen unternehmen, das uns Spaß macht? Was würden wir tun, wenn wir verlernen könnten, was wir gelernt haben etwas produzieren zu müssen?

Solche Überlegungen waren es, die uns zur diesjährigen Ausgabe des IMPLANTIEREN Festivals 2022/23 führten. IMPLANTIEREN versucht einen Raum zu erschaffen, in welchem nicht nur die Produkte der künstlerischen Arbeit, sondern die Prozesse und die sich daraus entstehenden Gemeinschaften ihren Platz finden. Einen Ort, wo sich Gruppen bilden können, wo es Platz gibt zum Verweilen, zum Ideen-Tauschen, zum anders-Arbeiten gibt. Und das weder in einer Volkshochschule noch im Sportverein, weder beim eigentlichen Filò noch in einem soziokulturellen Zentrum, sondern im Rahmen eines Festivals, mit der Intensität und Offenheit, welche nur ein zeitlich begrenztes Format ermöglichen kann. Wo Anstrengungen nicht umsonst sind und auch nicht für immer, wo Begegnungen stattfinden, die man nicht erwartet hätte, wo eine Gemeinschaft zusammenkommt, sich zelebriert, sich selber anschaut und wieder, aktualisiert, auseinandergeht.

Wir fragen uns, wie eine andere Kultur entstehen bzw. wie künstlerische Arbeit in einer sich de facto seit langem verwandelnden Gesellschaft anders gestaltet werden kann. Wahrscheinlich werden wir nie wieder ein Filò sehen. Aber was könnte stattdessen entstehen?